Szenen aus dem Leben eines seltenen deutschen Weltbürgers. Als versoffener russischer Maler in einem tragikomischen Film des "Midnight Run"-Autors George Gallo hat er gerade die Dreharbeiten in New Orleans beendet, entkommt knapp dem Hurrikan Katrina, bricht sich dann aber in Berlin den Fuß. Und zwar ausgerechnet dort, wo er als singender Prinz in "Aschenbrödel" 1952 noch voller Selbstzweifel sein Debüt als Schauspieler gab: Im Brecht-Ensemble, seinem alten "Theater am Schiffbauerdamm" in Ost-Berlin. Bei einer Sprechprobe für eine Lesung zu Ehren des 60. Geburtstages des Aufbau-Verlages blendet ihn ein Scheinwerfer, und Armin Mueller-Stahl stürzt zwei Meter tief in den Bühnengraben. Er liest trotzdem und erst nachdem er anschließend - höflicher Mensch, der er ist - noch eine Stunde lang mit geschwollenem Fuß den Verleger Lunkewitz beim Cocktail-Empfang unterhalten hat, läßt er sich von seiner Frau Gabi endlich ins Krankenhaus fahren.
Während er nun in seinem deutschen Haus an der Ostsee festsitzt, die Strandspaziergänge im Herbstlicht vorübergehend gar nicht oder nur verkürzt auf Krücken stattfinden können, erscheint im Aufbau Verlag sein prächtiger Band "Venice - Ein amerikanisches Tagebuch", eine ebenso unterhaltsame wie nachdenklich stimmende Novelle über eine zur Freundschaft entwickelte Zufallsbegegnung mit einem freiwillig in die Welt der Homeless-People abgestiegenen Vertreters des Zeitgeistes, einem Banker. Das Buch, das Mueller-Stahls Spaziergänge und Fahrradtouren an seinem zweiten Lieblingsstrand Venice-Beach an seinem zweiten Lieblingswohnsitz Los Angeles reflektiert, ist reich illustriert mit wunderbaren Skizzen seiner Beobachtungen vonMenschenfiguren und Szenen aus dem kalifornischen Strandpromenaden-Milieu.
Vor 75 Jahren in Tilsit geboren, hat er so viele Leben gelebt, wie man sie vielleicht nur als ein Schauspieler leben kann, dessen Charakterstärke und dessen "Gauklergemüt" seine größten Gaben sind. Eine Kindheit und frühe Jugend in der Geborgenheit einer musisch begabten Bankangestellten-Familie während der Nazizeit, mit einem in den letzten Kriegstagen als Soldat umgekommenen, innig geliebten Vater, der ihn fortan in der Erinnerung durchs Leben begleitete. In später Jugend und als junger Erwachsener ein Leben in West- und Ost-Berlin ohne Mauer. Eines in Ost-Berlin und der DDR mit der Mauer.
Mit 50 ein nächstes Leben jenseits der Mauer im Westen,zunächst in West-Berlin und dann in der Bundesrepublik, an derOstsee bei Lübeck. Dann ein Leben in Amerika, in Los Angeles, in Hollywood fern der Mauer und des Eisernen Vorhangs, deren Fall er kurz darauf bei Dreharbeiten zu "Avalon" in Baltimore im Hotelzimmer auf dem Fernsehschirm erlebt. Und nun seit langem schon - und inzwischen zusätzlich mit amerikanischem Paß - ein Pendler-Leben zwischen dem Haus am Ostsee-Strand und jenem hoch über dem Pazifik, in PacificPalisades. Es liegt einen Hügel von dem entfernt, auf dem einst Thomas Mann wohnte, den in Breloer/Königsteins Familiensaga über die Manns für das deutsche Fernsehen zu spielen eine ebensolche Lieblingsrolle war, wie die des in New York als Taxifahrer gestrandeten Clowns aus Ostdeutschland in Jarmuschs "Night on Earth". Alles in allem bisher ein Leben mit mehr als 120 Filmen in der DDR, der Bundesrepublik, in Amerika und Südafrika. Preise satt, drei Oskar-Nominierungen, höchste Orden der DDR und der Bundesrepublik.
In der DDR war er ein großer Star, der in Ungnade fiel, in der Bundesrepublik war er ein eigensinniger Star, der lieber mit Rainer Werner Fassbinder als für die Schwarzwaldklinik drehte. Dem die Miesepetrigkeit in Kohls Deutschland mißfiel, der aufatmete im Amerika Clintons und verstört ist über jenes der Familie Bush. Der immer wieder Luftveränderung braucht, um Distanz zu gewinnen - auch zu sich selbst. Nur eine darf immer dabei sein an seiner Seite: Gabi, seine Frau, Ärztin und Managerin beider Leben, mit der er einen erwachsenen Sohn hat. Am heutigen Sonnabend feiern sie alle Geburtstag. Sein schönstes Geschenk erhält Mueller-Stahl am Sonntag. Kurt Masur, den er seit Jahrzehnten verehrt, aber erst vor wenigen Jahren persönlich kennengelernt und sich prompt mit ihm befreundethat, wird für den Schauspieler, Maler, Zeichner und studierten Geiger mit der selbsterwählten Berufsbezeichnung "Gaukler" ein gewaltiges Geburtstagsständchen des Leipziger Gewandhausorchesters dirigieren - den "Karneval der Tiere".