Das Schönste am Reisen ist das Ankommen. Für mich gab es keine schönere und erhebendere Ankunft als die mit der Queen Elizabeth II in New York. Als nach fünftägiger Atlantiküberquerung im frühen Sonnenlicht die Skyline von Manhattan näher rückte, die Wolkenkratzer sich aus dem Dunst lösten, sich immer dichter und höher türmten und der Ozeanliner in langsamer Fahrt die stolze Freiheitsstatue passierte, war es mir, als ob uns Ankömmlingen, die staunend und in aufgeregter Erwartung an Deck im leichten Morgenwind fröstelten, die erhebende Symphonie ‚Aus der neuen Welt' von Antonín Dvorák entgegenschallte, die dieser während seiner drei Jahre als Direktor des Nationalkonservatoriums in New York gegen Ende des 19. Jahrhunderts komponiert hatte. Dieses musikalische Werk bündelt in dramatischer Weise die Empfindungen der Millionen Menschen, die in Jahrhunderten auf dem Wasserwege hier angekommen sind, voller Hoffnungen und Erwartungen auf das Abenteuer New York und Amerika. Die wenigsten reisten allerdings auf Luxusdampfern. Zusammengepfercht auf Auswandererschiffen kamen die Glückssucher in Massen in der Neuen Welt an, wo sie auf Ellis Island, im Schatten der 46 Meter hohen kupfergrünen Fackelträgerin Miss Liberty, einem 1886 eingeweihten Geschenk Frankreichs an die Amerikaner, zunächst das Einwanderungsverfahren überstehen mußten, ehe sie übersetzen durften nach Manhattan. Ihnen hat der amerikanische Schriftsteller John Dos Passos mit seinem 1925 erschienenen Roman ‚Manhattan Transfer' sein literarisches Denkmal gesetzt. All diese Menschen, die hier ankamen, haben indessen sich selbst, von Generation zu Generation, mit New York ein unsterbliches Monument geschaffen. Sie haben diese Stadt schlicht zur "Stadt der Städte" gemacht. Für immer. Auf stabileren Säulen ruhend als all ihre Vorgängerinnen. "Einst gab es Babylon und Ninive, die waren aus Backstein gebaut. Athen prunkte mit vergoldeten Marmorsäulen. Rom ruhte auf breiten Quaderbögen. In Konstantinopel flammen die Minarette wie große Kerzen rund um das Goldene Horn ... Stahl, Glas, Ziegel, Zement werden das Material der Wolkenkratzer sein: dicht gedrängt auf der schmalen Insel ragen millionenfenstrige Gebäude, glitzernd, Pyramide auf Pyramide, wie die weiße Wolkenkappe über dem Gewitter", heißt es in Dos Passos' ‚Manhattan Transfer' über die Sich in den zwanziger Jahren bereits abzeichnende Silhouette und das Fundament der Hauptstadt der Neuen Welt. In ihr sind die vier klassischen Himmelsrichtungen zweitrangig, nur für die Planquadrate der Wohn? und Bürolagen von Bedeutung. Entscheidend ist aber die fünfte Himmelsrichtung: sie weist im Wortsinn nach oben, hoch hinaus. So, wie die Freiheitsstatue ihren kraftvollen Arm mit der Fackel wegweisend gen Himmel reckt. Jeder, alles strebt nach oben. Jeder hat die Chance, aber er muß schwindelfrei sein, in jeder Hinsicht wagemutig. Es war der Architekt Le Corbusier, der eine der treffendsten Charakterisierungen dieser Stadt abgegeben hat. Sie wurde für den seit vielen Jahren in New York ansässigen deutschen Fotografen Horst Hamann zur Leitidee für diesen Fotoband: "New York ist eine vertikale Stadt. Im Zeichen der neuen Zeit. Es ist eine Katastrophe, mit der ein zu eilfertiges Geschick ein mutiges und zuversichtliches Volk überwältigt hat; doch es ist eine schöne und ehrenwerte Katastrophe
Die vertikale Stadt. Erdbebensicher gegründet auf einem Granitfelsen vor der Mündung des Hudson River in den Atlantik. Seit jeher ist dieser Grund und Boden einer der teuersten auf unserem Planeten. Damit es sich rechnete, baute man nachder Erfindung des Fahrstuhls Mitte des 19. Jahrhunderts himmelwärts. Die ersten, damals spektakulären Hochhäuser wuchsen bereits kurz nach der Jahrhundertwende empor. 1902 wurde das 95 Meter hohe Flatiron Building in den spitzen Winkel zwischen Fifth Avenue und Broadway gebaut, 1909 entstand am Madison Square der Metropolitan Life Tower, eine 213 Meter aufragende überdimensionale Kopie des Campanile von Venedig, 1913 das Woolworth Building am Broadway, das bis 1930 mit 241 Metern das höchste Gebäude der Welt war. Mit der Fertigstellung des 319 Meter hohen Chrysler Building im Artdeco-Stil begann eine neue, stürmische Ära im Wolkenkratzerbau. Es löste sich nicht nur der Baustil von europäischen Vorbildern, der eigene Skyscraper in New York wurde für die großen Unternehmen zum Synonym für ihre ökonomische Potenz. Um in diesem Sinne den Konkurrenten Chrysler auszustechen, wollte der Vizepräsident von General Motors John Jacob Raskob noch höher hinaus. Es heißt, zu diesem Zweck habe er einen dicken Bleistift auf den Schreibtisch gestellt und seinen Architekten gefragt: "Bill, wie hoch kannst Du bauen, ohne daß es umfällt?" Das Ergebnis war das in der Rekordzeit von dreizehn Monaten aufgetürmte und im Mai 1931 eingeweihte Empire State Building, mit knapp 381 Metern bis zur Fertigstellung des 411 Meter hohen World Trade Center im Jahre 1973 das höchste Gebäude der Welt. Als „demokratische amerikanische Antwort auf die faschistische und kommunistische Monumentalarchitektur" wird indessen das aus neunzehn Gebäuden bestehende, in den dreißiger und vierziger Jahren errichtete Rockefeller Center mit seinen begrünten Plätzen, Brunnen und Skulpturen angesehen, eine Stadt in der Stadt, in der 65 000 Menschen arbeiten und täglich 175 000 Besucher ein-und ausströmen.
Die Ästhetik der aus hartem Existenzkampf und Gewinnstreben emporgewachsenen Kulisse ist einmalig in dieser Welt. Und unübertroffen. Auch anderswo gibt es bekanntlich vertikales Streben, gibt es Wolkenkratzer, Wohn- und Bürotürme, die noch höher sind. Oder radikaler. Oder spektakulärer in ihrer futuristischen Architektur. Längst steht das höchste Gebäude nicht mehr in New York. Und dennoch ist es bis heute nicht gelungen, Manhattan mit seiner architektonischen Mischung aus Colonial und Federal, Greek and Roman Revival, Neoklassizismus und Neogotik, Beaux Art, Modern Streamline, Art deco und Postmoderne etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Hongkong und Shanghai, Tokio und Singapur, Chicago, Säo Paulo, Moskau, Frankfurt, oder wie sie alle heißen mögen, sind nur Imitationen. All diese Städte mögen einen dynamischen, exotischen oder coolen Reiz ausüben und offen sein für einen heftigen Flirt oder eine Liebelei. Aber was sie alle nicht haben, ist das, was die Einmaligkeit New Yorks und seine Anziehungskraft ausmacht, sind seine Legenden und Mythen, ist die pralle Geschichte und sind die sich täglich reproduzierenden großen und kleinen Schicksalsmeldungen über Erfolg und Scheitern. New York ist Sehnsuchtsziel trotz Schauergeschichten über Kriminalität und Einsamkeit. Wo sonst vermischen sich Wirklichkeit und Fiktion so sehr, daß am Ende alles wahr sein kann? New York produziert den Stoff aller Träume. Im Geldmachen, in der Literatur, der Kunst und Musik, vor allem aber im Film und Fernsehen. Warum soll Fritz Langs Metropolis irgendwo im Untergrund nicht immer noch ein Stück Realität sein? Oder das unvergeßliche Frühstück bei Tiffany? Oder Woody Allens Stadtneurotiker, wo doch die Stadt voll von ihnen ist? Daß ein mutierter Gorilla wie King Kong eines Tages am Empire State Building hängt, scheint ebenso möglich wie ein Flammendes Inferno in einem Wolkenkratzer. Und landete nicht auch Crocodile Dundee aus dem australischen Busch in New York, womit der Film zum Kassenhit wurde - gemäß dem Motto: Ein paar Szenen New York sind immer gut für die Kinokasse? Das simple Geheimnis dieser Stadt ist, daß sie sich selbst genug ist und sich täglich auf nicht zu überbietende Weise bis zur absoluten Glaubwürdigkeit inszeniert. Das Potential, aus dem sie ihre Attraktivität, ihre Energie, die Phantasie und Kreativität schöpft, sind die Menschen, ist dieses Völkergemisch auf den Straßen und hinter den Fassaden der Betonkathedralen, das sind ihre exotischen wie banalen Gerüche, ihre Geräusche, das ist bei Tag wie bei Nacht das besondere Spiel von Licht und Schatten zwischen den Hochhäusern. Und das ist ihr flinkes Regenerationsvermögen. Wie ein Vamp holt sie aus jedem das heraus, was sie für ihre glanzvolle Erscheinung braucht. Und es gibt kaum jemanden, der der Faszination dieser Stadt nicht erliegt; viele sind ihr verfallen.
Horst Hamann zum Beispiel. „Die Stadt bewegt mich seit meinem ersten Besuch, seit meinem ersten Blickkontakt." Inzwischen lebt er seit Jahren in New York, im Süden Manhattans. Von seinem Studio aus hat er die Skyline täglich vor Augen. Mittlerweile kennt er die Stadt wie nur wenige. Er hat sie sich regelrecht erlaufen - in der New Yorker Gangart. Es gibt eine Gangart, die man nur hier findet: den schnellen, regelmäßigen, ausholenden Schritt, kombiniert mit einer ausgeprägten körperlichen Gewandtheit beim Ausweichen, Überholen und Vorankommen sowie einer ausgeglichenen Atmung. Kein hektisches Rennen. Manhattan ist wie kaum eine andere amerikanische Metropole auch eine Stadt für Fußgänger, aber nicht für Flaneure. Die stören den Takt. Edward T. Koch, der ehemalige Bürgermeister von New York, formulierte dieses Phänomen so: „Ein New Yorker sein heißt, daß man mindestens sechs Monate hier gelebt hat. Wenn man dann feststellt, daß man schneller geht, schneller redet und schneller denkt, ist man New Yorker: Es ist eine Geisteshaltung."
Irgendwann fiel Hamann auf, daß dieses ständige Streben von allen und allem nach oben ein Charaktermerkmal ist und daß die Architektur in ihrer Tradition, ihrer Modernität und ihren Brüchen den Rhythmus der Bewohner und deren Befindlichkeit spiegelt. Und zwar ist es nicht nur die große, ins Endlose ragende Architektur, sondern auch die im Kleinen, in den Details, ob auf den Straßen oder in den Hinterhöfen. Noch der trostloseste Winkel scheint den Blick auf etwas Großes, auf ein Wahrzeichen freizugeben, das aus der Ferne, im Dunst wie ein Fingerzeig aufragt und die Mahnung auszusprechen scheint, ja nie aufzugeben.
So reifte in dem Fotografen die Idee, seine Beobachtungen künstlerisch umzusetzen, seine Panorama-Kamera um neunzig Grad zu kippen und diese „vertikale Stadt" auch in ihrer „Vertikalität" zu fotografieren. Das hatte in dieser Form noch niemand vor ihm gemacht. Gemeinsam mit dem Mannheimer Verleger Bernhard Wipfler entwickelte Hamann 1991 für die Edititon Quadrat das Konzept für den vorliegenden Schwarzweiß-Bildband New York Vertical. Es folgten fünf Jahre Arbeit an dem Buch, parallel zu Fotoaufträgen für zahlreiche Magazine und Unternehmen. Daß auch die meistfotografierte Stadt der Welt noch auf ungeahnte Weise im Bild festgehalten werden kann, hatte bereits einen anderen fasziniert. Reinhart Wolf zeigte in seinem 1980 erschienen Farbbildband die Kronen und Zinnen, die Turmspitzen und Giebel der Paläste und Kathedralen des Kapitalismus in all ihrem kalten Glanz und ihrer majestätischen Pracht; so, wie man sie in ihren Details allenfalls aus der gegenüberliegenden Chief-Executive-Etage, nicht aber von der Straße aus zu erkennen vermag. Hamann indessen wählt konsequent die vertikale Panorama-Perspektive, meist von unten aufwärts. Aber auch wenn er von einem erhöhten Standpunkt fotografiert, von der Manhattan Bridge oder aus dem Kopf der Statue of Liberty, nutzt er die Möglichkeit des extremen Hochformats voll, bleibt das, was sich weit unten abspielt, dem Ganzen verbunden. Daß sich Horst Hamann nicht als Dokumentarist der Architektur versteht, erschließt sich beim Betrachten der Aufnahmen schnell.
Es sind überraschende, Harmonie und Spannung gleichermaßen erzeugende Blickwinkel, mit denen er den Betrachter konfrontiert. Er gesteht, fast ein Jahr gebraucht zu haben, um seinen vertikalen Blick zu schulen und das Hochformat-Panorama so zu beherrschen, daß Überfrachtungen und bedeutungslose Leere in den Aufnahmen vermieden werden konnten. In den folgenden vier Jahren lernte er, sein ungewöhnliches 3:1 Hochformat so zu handhaben wie kein anderer. Stürzende Linien werden bewußt als dramaturgisches Stilmittel eingesetzt, um gebündelt in die vertikale Unendlichkeit zu weisen und damit im wahrsten Sinne des Wortes eine Hoch-Spannung zu erzeugen. Auch bei anderen Fotoarbeiten hat Hamann immer wieder den Ausbruch aus der Konventionalität praktiziert. Reduktion auf wesentliche Bildinhalte und eine stark grafische Handschrift prägen seinen Arbeitsstil.
Die in diesem Buch vorliegende Auswahl seiner „Verticals" läßt ahnen, wieviel visuelle Kompetenz, wieviel Energie und Ausdauer nötig waren, um Motive und Perspektiven festzulegen, das richtige Stockwerk, Standpunkte, Einfallswinkel, und schließlich für Fotografiergenehmigungen zuständige Ansprechpartner ausfindig zu machen, die überredet werden wollten, oder, wenn es gar nicht anders ging, mit Frechheit und einer Portion Glück ausgetrickst werden mußten wie beim Chrysler Buildung. Als ein befreundetes Filmteam eine Ausnahmegenehmigung erhalten hatte, um auf der Spitze seines Lieblings-Wolkenkratzers zu drehen, schlich Hamann sich mit ein, verließ im 61. Stock den Fahrstuhl, um durch ein Bürofenster zu klettern und ein seit langer Zeit begehrtes Motiv zu fotografieren: den Chrom-Adler. Wegen des Sonnenstandes und der Gefahr entdeckt zu werden, blieben ihm nur wenige Minuten, um den richtigen Ausschnitt zu wählen. Während dreihundert Meter unter ihm der Verkehr dröhnte, machte Horst Hamann aus der Hand sein Bild.