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Astronaut Reinhard Furrer: Ein Deutscher auf dem Weg ins All
Zu Gast beim Mann in der Tonne
Wie der Berliner Physiker in einem Modell des Spacelab für den ersten von der Bundesrepublik voll finanzierten Raumflug trainiert

Köln, im September

Der Weg ins All führt über die Autobahn von Bonn in Richtung Köln. Es ist Mitternacht, der Himmel ist sternenklar. Der Fahrer des orangefarbenen VW-Käfers tritt das Gaspedal durch, um pünktlich zum Schichtwechsel ins Weltraumlaboratorium Spacelab zu kommen. Der in Jeans und schwarzer Pilotenjacke steckende Mann mit den kurzgeschorenen grauen Locken hinter dem Lenkrad heißt Reinhard Furrer. Er ist 44 Jahre alt und übt einen der exklusivsten Berufe der Welt aus: Furrer ist Wissenschaftsastronaut - einer von dreien, die es zur Zeit in der Bundesrepublik gibt.

Angetrieben von seiner „wissenschaftlichen Neugier“, dem „seit der Kindheit gehegten Wunsch, einmal von oben auf die Erde hinunterzugucken", und aus Abenteuerlust hatte sich Anfang 1977 der damalige Assistenzprofessor am Institut für Atom- und Festkörperphysik der Freien Universität Berlin als einer von 700 Interessenten auf eine Stellenanzeige hin bei der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR) beworben, die „Wıssenschaftler irn Weltraumlabor" suchte. Von 1980 an, so hieß es in der Annonce, werde das in Europa entwickelte Weltraumlaboratorium (Spacelab) mit dem amerikanischen Raumtransporter „zu wissenschaftlichen Aufgaben in den Weltraum starten. Auch deutsche Wissenschaftler sollen dort an Bord unter Schwerelosigkeit arbeiten". Diese sogenannten „Nutzlastexperten“ würden „keine Astronauten im herkömmlichen Sinne sein“, sondern während des Fluges an Bord experimentieren, „wogegen der Raumtransporter von Berufsastronauten der NASA gesteuert wird“.

Kein Bedarf an Athleten

Bei dem großen Andrang rechnete sich Furrer wenig Chancen aus, zumal die exakten Anforderungen unbekannt waren, „außer daß ein Astronaut einen putzgesunden Kreislauf haben und wissenschaftlich irgendwie qualifiziert sein mußte“. Athletische Hochleistungssportler waren nicht gefragt, „weil die einen extrem labilen Kreislauf haben und es nicht durchhalten, wenn der Körper unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit noch weniger beansprucht wird als im Bett“. Nach unzähligen, zwei Jahre dauernden Tests, zu denen er sich immer aus Berlin fortstahl, weil er niemandem von der Bewerbung erzählen wollte, hatte er es geschafft. Zusammen mit dem heute ebenfalls 44-jährigen Ulf Merbold und dem nunmehr 4Ojährlgen Ernst Messerschmid wurde er verpflichtet. Merbold hatte das Glück, bereits bei der europäisch-amerikanischen Spacelab-Mission im Herbst 1983 mitfliegen zu können; Furrer und Messerschmid sind jetzt, zwei Jahre später, nach dreijährigem harten Training, an der Reihe, wenn die Raumfähre Challenger mit dem Spacelab an Bord voraussichtlich am 30. Oktober um 17.30 Uhr MEZ vom amerikanischen Raumfahrtbahnhcf Kap Canaveral in Florida zur siebentägigen D-1-Mission abhebt.

Die D-1-Mission ist das erste Raumflugunternehmen, das die Bundesrepublik voll finanziert. Die deutschen Astronauten dürften daher die teuersten „Lehrlinge“ sein. die je für den öffentlichen Dienst ausgebildet wurden. Im Vergleich zu den Gesamtkosten der D-1-Mission, rund 400 Millionen Mark, und der damit auf den Wissenschaftsastronauten lastenden Verantwortung nimmt sich deren J ahresgehalt von rund 80 000 Mark brutto allerdings ziemlich bescheiden aus. Allein 170 Millionen Mark kostet das Chartern des US-Raumtransporters, der das Raumlabor mit der Forschungs-„Nutzlast“ zur Durchführung von 78 überwiegend von europäischen Universitäten entwickelten Experimenten in den Orbit bringen wird.

Insgesamt werden sieben Männer und eine Frau an Bord sein: Außer Furrer und Messerschmid als dritter Wissenschaftsastronaut der 39jährige Niederländer Wubbo Ockels von der europäischen Weltraumbehörde ESA, die 36jährige Amerikanerin Bonnie J. Dunbar und ihr 42jähriger farbiger Kollege Guion S. Bluíord, die den Spacelab-Betrieb überwachen und den drei europäischen Wissenschaftsastronauten zur Hand gehen, sowie drei der Berufspiloten der Raumfähre; Kommandant ist der 51jährige Henry Hartsfield.

Bis der Raumtransporter nach dem Start seine vorgeschriebene Umlaufbahn in 324 Kilometern Höhe erreicht hat, auf der er dann  mit einer Geschwindigkeit von 28 000 Kilometern pro Stunde alle 90 Minuten einmal die Erde umrundet, dauert es nur eine Viertelstunde - genauso lange, wie jetzt Furrer braucht, um von seiner kleinen Altbauwohnung am Rande des Bonner Kneípenviertels über die Autobahn nach Köln-Porz auf das Gelände der DFVLR am Rande des Köln-Bonner Flughafens zu kommen. Hier „parkt“ ein Modell seines Weltraumlaboraríums. In seinem Büro in einem aus Fertigteilen zusammengeschachtelten Bungalow schlüpft er in einen kobaltblauen Raum-Overall. Nun sieht er endlich einem Astronauten ähnlich - "jenem Typus von einem kernigen Hero“, so spottet Furrer, „wie ihn sich die Photographen und die Öfifentlichkeit wünschen“.

Furrers Welt, das Spacelab, steht hinten links in einer Montagehalle des „Instituts für Flugmedizin" und ist umgeben von summenden und blinkenden Rechneranlagen und Bildschirmcomputern. Es ist eine zylindrische Kabine von knapp acht Metern Länge und etwas über drei Metern Durchmesser. Diese vanillefarbene „liegende Tonne“ ist ein durchaus flugtaugliches originalgetreues Zwillingsmodell zu dem in den USA für den Flug ins All bereitstehenden Spacelab. Hier in Köln-Porz dient es als Simulator beim Trainig der Astronauten.

Kurz nach Mitternacht ist Furrer im Spacelab und löst Messerschmid ab. Auch bei den Amerikanern wird gewechselt. Für Bluford kommt Bonnie Dunbar. Furrer legt den Arm um sie und sagt grinsend:"Ich habe das Glück, zusammen mit der einzigen Frau unter uns in die blaue Schicht eingeteilt worden zu sein. Das bedeutet, daß wir immer gemeinsam zwölf Stunden arbeiten, während die 'rote Schicht' schläft." Bonnie Dunbar und Reinhard Furrer klettern über eine Art Hühnerleiter durch den "Tunnel" vom ebenfalls nachgebíldeten "Mid-Deck", dem kleinen Schlaf- und Aufenthaltsraum der Astronauten unterhalb der Pilotenkanzel, ins Labor. Das Innere des Spacelab besteht aus einem Mittelgang von knapp zwei Metern Breite und mehreren, rechts und links aneinandergereihten sogenannten "Racks". Das sind „Einbauschränke“, die sogenannten Nutzlastelemente, in denen die Experimentieranlagen, fünf Schmelzöfen zur Materialforschung und Kristall- und Minikristallerzeugung, verschiedene Temperaturkammern zur Beobachtung des Wachstums von Wurzeln, Fliegen, Sporen, Froscheiern und Zellkulturen, sowie díe Einrichtungen zur Versorgung des Spacelab mit elektrischer Energie, Sauerstoff und Kühlluft und die Datenverarbeitungssysteme zur Übermittlung der Experímentierwerte zur Erde untergebracht sind.

Die Versuche dienen der Grundlagenforschung in Gebieten, in denen die Wissenschaftler auf der Erde wegen der Bedingungen der Schwerkraft an Grenzen stoßen - etwa bei der Erforschung des Gleichgewichtsorgans oder bestimmter Werkstofflegierungen, die für die industrielle Entwicklung hochempfindlicher Mikrochips von Bedeutung sind. Die D-1-Mission, der, so Hubertus Wanke von der DFVLR, "hoffentlich bald die D-2-Missíon folgt", soll dazu beitragen, daß die Bundesrepublik ihre internationale Position auf dem Gebiet der Forschung und Technologie behaupten kann.

Die Timeline, der minuziöse Zeitplan im "Payload-Crew-Activity-Plan", dem Arbeitsplane der „Nutzlast“-Crew, den Furrer mit an Bord bringt und der ihm die Handgriffe für die Experimentierabläuíe vorschreibt, verheißt ihm eine ruhige Nacht. Simuliert wird der sechste Tag der D-1-Mission. Auf dem Programm steht die letzte Phase und somit der Abschluß laufender Experimente auf den Gebieten der Bio-Wissenschaften, der Verfahrenstechnik, der Werkstoffkunde und der medizinischen Erforschung der Funktionen des menschlichen Herz-Kreislaufs sowie des Gleichgewichts- und Raumorientierungssystems unter Bedingungen der Schwerelosigkeit. Danach sind Aufräumarbeiten und die Vorbereitungen für den Wiedereintritt der Raumfähre in die Erdatmosphäre angesetzt.

Doch es kommt anders. Fast ohne Pause ist Furrer in den nächsten 14 Stunden in Aktion. Das liegt daran, daß er sich im bisher wichtigsten Stadium der Flugsimulation befindet. Erstmals „hängen“, so sagt er, beide Kontrollzentren - das der NASA im Houston/Texas und das „German Space Operations Centre“ (GSOC) im bayerischen Oberpfafíenhofen bei München - „live mit dran“. Mit dem D-1-Flug trägt auch zum erstenmal in der bemannten Raumfahrt ein Kontrollzentrum außerhalb der USA die Verantwortung für den Verlauf der Mission. Houston kontrolliert zwar Start, Flug und Landung des Space Shuttle. ist aber ansonsten nur Durchlaufstation der von Spacelab über geostationäre Satelliten in 36 000 Kilometem Höhe zur Erde zum GSOC nach Oberpfaffenhofen gefunkten Daten. „Die Datenflut. die von da oben mit Lichtgeschwindigkeit herunterstürzt“, so Furrer, „umfaßt bis zu 32 Millionen lnformationseinheiten pro Sekunde." Die „Live-Simulation“ wird jetzt von den vor den Bildschirmen in Bayem und Texas sitzenden Wissenschaftlern dazu genutzt, alle nur erdenklichen Pannen und neue Experimente in Furrersb Zeitplan einzubauen und die Reaktionsfähigkeit und geistige Flexibilität des Astronauten zu testen. Das geht so weit. daß Computerfehler eingebaut werden, die zum Zusammenbruch ganzer Experimentierreihen führen würden, sofern nicht in Minuten der Fehler behoben würde.

So bricht plötzlich die Energieversorgung für das "Bio-Rack" für eine Dreiviertelstunde zusammen, fallen die Külwassersysteme für das Spacelab und ein Thermostat des Werkstofflabors aus. Zwischendurch muß Furrer auch noch „raumkrank“ werden und Übelkeit vortäuschen "Allen möglichen Müll haben sie mir heute aufgeladen, stöhnt er, als er in einer kleinen Verschnaufpause ins „Mid-Deck“ geklettert kommt. Er hat nicht einmal Zeit zum Essen. Die pulverisierte, gepreßte und vakuumverpackte Bordverpflegung, vom „Beef Stroganoff rnit Nudeln“, über „Hähnchen à la King", "Erbsen ln Butter geschwenkt" und „zerkleinerter Ananas“ bis zum alkoholfreien „Tropenpunch“ und „Life-Saver-Bonbons“, bleibt in dieser Nacht liegen.

Trotz des gedrängten Arbeitsprograrnms im Spacelab vermitteln die beiden den Aufpassem draußen an den Bildschirmen einen gelassenen Eindruck. Sie bewegen sich ruhig, über einen Knopf im Ohr von der Bodenzentrale ferngesteuert. Höchste Konzentration ist in ihren Gesichtern zu lesen. Zeit, einen Blick auf die Erde hinunter oder ins All zu werfen, werden die Spacelab-Astronauten bei ihrem Flug kaum haben, anders als die Piloten des Raumtransporters in ihrer Kanzel mit Panorama-Sicht. Wohl um die Spacelab-Besatzung nicht von der Arbeit abzulenken, hat man ins Raumlabor nur ein kleines Bullauge von 30 Zentimetern Durchmesser eingebaut.

Was sind das für Menschen, die die Chance bekommen, ihren Arbeitsplatz in den Weltraum zu verlegen? Wie müssen sie psychisch und körperlich beschaffen sein? Furrer zum Beispiel hat das, was man eine funktionale Persönlichkeit nennt. Er ist in seinem Handeln rational und effizient, hat sich die Fähigkeit antrainiert, konzentriert mehrere Dinge gleichzeitig tun zu können. Während er beispielsweise für einen medizinischen Test zahlreiche Elektroden an seinen Körper klebt, behält er seinen Arbeitsplan genau im Auge, diskutiert mit seiner Umgebung einzelne Experimente und bleibt zudem ständig in Funkkontakt niit dem Kontrollzentrum. Er sagt und tut nichts, was entbehrlich, überflüssig wäre.

Die Angstschwelle heraufgesetzt

Der während des Krieges im österreichischen Wörgl geborene und in Kempten im Allgäu aufgewachsene Furrer stand schon mit vier Jahren auf Skiern. ln seiner Freizeit taucht, segelt und fliegt er, Als er mit dem Astronautentraining begann, hatte er als Inhaber eines Berufspilotenscheins schon tausend Flugstunden hinter dem Steuerknüppel zugebracht. Sein Gehirn besitzt offenbar eine optimale Speicherkapazität: Er beherrscht nicht nur wie ein Roboter alle Handgriffe für die Experimente der D-1-Mission, sondern weiß aufgrund seiner Physikerpraxis bis in alle Einzelheiten, worum es geht - was immer wieder deutlich wird, zum Beispiel, wenn er mit dem Simulationstraining unzufrieden ist, „weil bei vielen außenherum an den Computern die Sachkunde noch nicht da ist“. Für Furrer „gibt es keine Zufriedenheit vor dem Optimum, weil das hieße, mit zweit- und drittklassigen Ergebnissen einverstanden zu sein“.

Eineinhalb Jahre ist er mit Messerschmid und Ockels durch Europa und Amerika gereist und hat sich bei Experten in 30 Universitäten und anderen wissenschaftlichen Institutionen informiert. Während der mit einer Studienrätin verheiratete Reutlinger Messerschmid eher hedächtig, ruhig und abwägend wirkt, ist der Junggeselle Furrer einer, der zupackt. Aber beiden ist der Ehrgeiz an den Augen.abzulesen. "Messerschmid", so Furrer, „ist als Typ komplementär zu mir.“ Was macht den Astronauten in beiden aus? „Ein Astronaut muß rational, absolut diszipliniert sein, er muß Psychologe, Mediziner, Naturwissenschaftler, Operator sein. Vor allem aber", sagt Furrer in seiner Kommandosprache, „muß ein Astronaut bei aller Individualität eine hohe Konflikttoleranz besitzen. Er muß emotional extrem stabil sein und dennoch gleichzeitig sensibel mit schwierigen Situationen umgehen können."

Das bedeutet für den fliegerischen Einsatz: „Emotionen wegdrücken. Diese können tödlich sein. Hinterher kann ich immer noch über jede Granatenscheiße fluchen.“ Hat er folglich auch das Empfinden von Angst rationalisiert? „Angst?“ fragt Furrer und horcht einen Moment in sich hinein: „Na ja. wenn es mir bei Glatteis den Wagen unter dem Hintern wegzieht. sträuben sich bei mir schon die Nackenhaare.“ Ansonsten vermeidet er Angstgefühle. Beim Flugtraining im Starfighter flog er mit doppelter Schallgeschwindigkeit und stürzte im Parabelflug zur Erde zurück, so daß er zeitweise nicht mehr wußte, was oben und was unten ist. „Die Angstschwelle heraufsetzen“, nennen das die Psychologen.

Sein Vertrauen in die Technik kennt auch Grenzen: „Technik kann auch fehlerhaft sein, selbst wenn ein Automat auf Dauer weniger Fehler macht als der Mensch. Nur eines besitzt Technik nicht: Kreativität. Da ist der Mensch überlegen. Die Kreativität erlaubt mir, mit der Technik zu machen, was ich will. Mich kann die Technik nicht beherrschen.“ Und wenn die Technik einmal ausfällt? „Dann habe ich eben Pech gehabt.”

Wie verkaftet Furrer solche extremen Anforderungen? Zu Hause hört Furrer Musik; er spielt seit seiner Kindheit Geige. Seine gemütlichen Wohnungen in Berlin und Bonn. die überraschend viel Nestwärme ausstrahlen. verraten, daß Furrer auch den schönen Dingen des Lebens zugeneigt ist. Jedoch: Was sein Privatleben betrifft, ist er zugeknöpft. Ebenso wie seine Eltern und seine beiden Schwestem hält er die Freundin aus dem Astronautenrummel heraus. Aber auch das genießen ist bei ihm rationalsiert: „Ich habe wirklich gelernt. Zeit zu nutzen. Ich kann von einem Moment zum anderen den Hebel umlegen und mich fallen lassen.“